Dossier: Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg in Äthiopien (Tigray)

Hintergrund des Konflikts

Äthiopien, ein Land mit rund 102 Millionen Einwohner*Innen, befindet sich seit November 2020 in einem Ausnahmezustand. Noch im Herbst 2019 erhielt Abiy Ahmed, der äthiopische Ministerpräsident, den Friedensnobelpreis als Anerkennung für die Aussöhnung mit Eritrea. Nur ein Jahr später tobt in Äthiopien ein Bürgerkrieg, der tausende Tote nach sich zieht.[1]

Der Konflikt ist tief in der Geschichte Äthiopiens verwurzelt. Bis April 2018 war die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) in Äthiopien an der Macht. Die marxistisch orientierte Partei regierte seit 1991 als Teil der Demokratischen Front Äthiopischer Völker (EPRDF), wobei die TPLF einige Schlüsselpositionen in der EPRDF innehatte.[2] Doch schon vor der Machtübernahme durch Ahmed gingen Unruhen und Proteste durch das Land.[3] Mit Ahmeds Ernennung zum Ministerpräsident, schien sich die Situation zwar zu beruhigen, doch die Spannungen zwischen der Volksbefreiungsfront Tigray und der Zentralregierung verschärften sich weiter. Die TPLF entschied sich im September 2020 dazu, Wahlen stattfinden zulassen, obwohl diese von der Regierung auf Grund der Corona Pandemie ausgesetzt wurden.[4] Die TPLF kürte sich zum Sieger ihrer eigenen Wahl und entzog der Regierung die rechtliche Zuständigkeit für die Region Tigray.[5] Daraufhin startete Ahmed am 4. November 2020 eine Offensive gegen die TPLF und entsendete Truppen in die nördliche Region. Seitdem kämpfen die beiden Akteure gegeneinander – tausende Menschen verloren ihr Leben und mindestens zwei Millionen Menschen wurden aus der Region Tigray vertrieben.[6]

Schon bald gab es auch Andeutungen auf eine Involvierung Eritreas in den Konflikt. Die äthiopischen Soldat*Innen sollten von eritreischen Soldat*Innen im Kampf gegen die TPLF unterstützt werden. Dieser Verdacht wurde schließlich im April 2021 durch Ministerpräsident Ahmed bestätigt.[7]

 

Die menschenrechtliche Verpflichtung der Akteure

Grundsätzlich verpflichten völkerrechtliche Verträge nur jene Staaten, die diese ratifiziert haben. Die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien hat einige Menschenrechtsverträge unterzeichnet – so auch unter anderem die UN-Antifolterkonvention 1984, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1976 und den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1966. Darüber hinaus ist Äthiopien Mitgliedstaat der Genfer Abkommen von 1949, derer beiden Zusatzabkommen und einigen Haager Abkommen. Auch Eritrea ist Vertragspartei der oben genannten Verträge. Als Mitgliedstaaten dieser Verträge haben sich die beiden Staaten also dazu verpflichtet diese zu erfüllen und zu achten.

Die eritreischen Soldat*Innen handeln zwar nicht auf dem eigenen Staatsgebiet, dennoch ist mittlerweile immer mehr anerkannt Staaten auch gewisse extraterritoriale menschenrechtliche Pflichten aufzuerlegen. So sind die Staaten zumindest an die negative Pflicht der Achtung der Menschenrechte auch außerhalb des eigenen Gebiets gebunden.[8]

Die TPLF ist hingegen als nicht-staatlicher Akteur zu qualifizieren. Zwar sind klassischerweise lediglich Staaten an das Völkerrecht gebunden, dennoch erscheint es sinnvoll einem nicht-staatlichen Akteur, der die Kontrolle über ein Gebiet ausübt, dazu zu verpflichten die Menschenrechtsnormen zu achten, wenn sein Verhalten die Menschenrechte der unter ihm stehenden Bevölkerung berührt.[9]

Die drei Akteure sind somit alle an die Einhaltung der Menschenrechtsverträge gebunden. Angesichts des Bürgerkriegs stellt sich allerdings die Frage, inwiefern diese Bindung eingehalten wurde.

 

Die wesentlichsten Eingriffe in die Menschenrechte

In einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt, wie dem Bürgerkrieg in Äthiopien, sind die Akteure kumulativ an das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechtsverträge gebunden. Dabei werden die Menschenrechte anhand der humanitär völkerrechtlichen Regelungen ausgelegt.[10] Hierbei ist zu beachten, dass das humanitäre Völkerrecht eine klare Differenzierung zwischen Kombattant*Innen und Zivilist*Innen trifft. Während Angriffe und Verletzungen von Menschenrechten der Kombattant*Innen unter gewissen Umständen zulässig sind, dürfen die Rechte der Zivilist*Innen nie verletzt werden.[11]

 

Bereits im Februar 2021 wurde die Anzahl der Kriegstoten des Bürgerkriegs auf 20.000 bis 50.000 geschätzt.[12]Seitdem gibt es Berichte von Massakern durchgeführt von äthiopischen Streitkräften und auch durch die TPLF. Unter den Opfern waren nicht nur Soldat*Innen, sondern unzählige Zivilist*Innen.

Darüber hinaus wurden tausende Menschen festgenommen. Äthiopische Soldat*Innen nahmen Tigrayer fest und die Streitkräfte der TPLF nahmen jene fest, die nicht aus Tigray stammen. Die Festnahmen geschahen dabei häufig allein auf Grund der Ethnizität der Personen und viele erfolgten ohne eine Aufklärung über ihre Rechte oder gar ein Verfahren.[13] Auch hier wurde oft keine Unterscheidung zu den Zivilist*Innen getroffen.

Viele Inhaftierte wurden körperlich misshandelt, ihnen wurde Wasser und Essen entzogen, sie mussten in schmerzhaften Positionen für mehrere Stunden sitzen und ihnen wurde dauerhaft mit dem Tod und anderen Gewalttaten gedroht.[14]

All diese Situationen sind Verletzungen des Rechts auf Lebens, des Rechts auf ein faires Verfahren, der Freiheit der Person und sie verstoßen gegen das Verbot der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlungen.

 

Auch die humanitäre Situation in Äthiopien ist besorgniserregend. Im Februar 2022 waren 9,4 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen und 83 % aller Tigrayer waren von Ernährungsunsicherheit betroffen. Ferner waren 13 % der Kinder in Tigray, Amhara und Afar unterernährt, sowie die Hälfte aller schwangeren und stillenden Frauen.[15]Dies liegt unter anderem daran, dass die Zentralregierung die Lieferung von lebensnotwendigen Gütern wie Lebensmittel, Wasser und Medikamente nach Tigray durch Blockaden verhindert. Das Recht auf Leben und Wohlfahrt wird durch die Zentralregierung nicht nur missachtet, sondern sie geht aktiv dagegen vor.

 

Unter anderem Frauen leiden stark an dem andauernden Konflikt. Seit Beginn gibt es Zeugenaussagen zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Insbesondere Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei und sexuelle Verstümmelung sollen dabei von allen Akteuren begangen worden sein. Allein von Februar bis April 2021 sollen 1.288 Fälle der sexuellen Gewalt in medizinischen Einrichtungen in Tigray registriert worden sein.[16]

Diese Taten sind nicht nur als geschlechtsspezifische Gewalt im Sinne des Artikel 1 der Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen zu qualifizieren, sondern sie verletzen insbesondere die Würde der Frauen, das Recht auf Wohlfahrt und Gesundheit und verstoßen gegen das Folterverbot und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen.

Auch weitere vulnerable Gruppen wie Kinder und Menschen mit Behinderungen leiden erheblich unter dem Konflikt. Obwohl diese durch spezifische Konventionen, wie die UN-Kinderrechtskonvention oder die UN-Behindertenrechtskonvention besonders geschützt sind, kommt unter anderem Äthiopien seiner Pflicht die Rechte dieser Gruppen zu schützen nicht nach.

 

Neben Verletzungen der bürgerlichen und politischen Rechte, werden auch soziale und kulturelle Rechte in dem Bürgerkrieg verletzt. So kam es zu Abschaltungen der Telekommunikationsnetzwerke, Journalist*Innen wurden angegriffen, inhaftiert oder sogar erschossen. [17]  Dies führt zu einer erheblichen Einschränkung der Meinungs- und Informationsfreiheit.

 

All dies sind lediglich Ausschnitte aus dem tobendem Bürgerkrieg in Äthiopien. Es gibt noch viele weitere Situationen, die die Menschenrechte der Bevölkerung verletzten und viele weitere Menschenrechte, die dadurch betroffen sind. Wie sich der Konflikt weiterentwickelt und vielmehr, wann er ein Ende nehmen wird, ist nicht vorhersehbar. Die Spannungen zwischen den beiden Hauptakteuren, gehen viel weiter zurück als November 2020. Sie beruhen auf einem Jahrzehnte langen Kampf um die Herrschaft Äthiopiens. Eine baldige Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzungen scheint nicht in Sicht. Es bleibt bloß zu hoffen, dass die Bevölkerung nicht noch länger schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wird und die Akteure beginnen ihre Rechte zu achten.

 

[Hierbei handelt es sich nur um eine kleine und grobe Zusammenfassung aus der Schwerpunktseminararbeit „Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg in Äthiopien (Tigray)“ von Leonie Duve]

 

[1] https://www.giz.de/de/weltweit/336.html; Tetzlaff, Vielvölkerstaat Äthiopien, S. 3 f.

[2] Scheen, FAZ 08.08.2016.

[3] Scheen, FAZ, 26.12.2016.

[4] Gavin, The Conflict in Ethiopia’s Tigray Region, S. 2 f.

[5] Hintergründe und Konfliktlinien, Deutschlandfunk, 05.07.2021.

[6] Reuters, U.S.News, 01.11.2021; Laffert, Deutschlandfunk, 11.01.2022.

[7] Tigray-Konflikt droht sich auszuweiten, minusgrenzen, 24.07.2021.; Fröhlich, DW, 26.02.2021; Gaveriaux/ Hochet-Bodin, LE MONDE diplomatique, 08.07.2021.

[8] Besson, Social Philosophy & Policy, 244 (245); McCorquodale, in: Clapham (Hrsg.) Human Rights and Non-State Actors, 97 (97).

[9] OHCHR/ EHRC, Tigray Report 2021, Rn 63.

[10] Heintze, in: Ipsen/ Heintze, Heutige Bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, 163 (172).

[11] Hill-Cawthorne, International Humanitarian Law, S. 99.

[12] Schumacher, Luzerner Zeitung, 18.02.2021.

[13] OHCHR/ EHRC, Tigray Report 2021, Rn 146.

[14] OHCHR/ EHRC, Tigray Report 2021, Rn. 130 ff.

[15] A record 9 million now need food assistance, UN News, 28.01.2022.

[16] Vergewaltigungen als Kriegswaffe, FAZ, 11.08.2021.

[17] OHCHR/ EHRC, Tigray Report 2021, Rn 262 f.